Stuttgarter Zeitung, 11.10.2006
Rotatorenmanschette
Neue Wege in der Orthopädie: Wie verletzte Rotatorenmanschetten wiederhergestellt werden können
Ein kurzer Blick auf das Kernspin-Bild genügt: Eine Schultersehne ist gerissen. Der Patient leidet schlimme Schmerzen und kann seinen rechten Arm nicht mehr heben. Für den Orthopäden Wolfgang Kunz ein Routinefall: Jedes Jahr behandelt und operiert der Schulterspezialist in der Atlasklinik in Neuhausen bei Stuttgart mehr als 150 Sehnenrisse. Und doch ist dieser Fall etwas Besonderes: Denn die Verletzung des Mannes ist so schwer, dass sie auf herkömmliche Art und Weise nicht zu retten wäre.
Schlüssellochchirurgie
Deshalb wendet Kunz eine spezielle Operationstechnik an, die er selbst entwickelt hat. Mit Hilfe eines Pflasters - einem biologischen Implantat aus dem dem Hautgewebe vom Schwein, hergestellt vom Orthopädie-Unternehmen Zimmer fügt der Chirurg die ausgefranste Sehne arthroskopisch wieder zusammen. Solche Bio-Pflaster werden zwar schon seit einigen Jahren mit Erfolg operativ verwendet, aber erst Kunz hat sie für die "Schlüssellochchirurgie" nutzbar gemacht.
Moderne operative Maßnahmen
Der Zimmer-Kollagen-Patch ist Kollagen in seiner natürlichen Form.
Auto- oder Skiunfälle
Schulterrisse können durch eine Lappalie verursacht werden. Oft genügen geringe Belastungen wie das Herunternehmen eines Koffers oder das Anheben einer Getränkekiste, dass die sogenannte Rotatorenmanschette reißt. Mit diesem Begriff wird eine Gruppe von vier flachen Sehnen bezeichnet, die die Schulter wie eine Manschette von vorne, oben und hinten umgeben. Sehnenrisse gehören zu den häufigsten
Schultererkrankungen. Während leichte Risse krankengymnastisch behandelt werden, näht man mittlere Risse normalerweise zusammen. Dabei wird die beschädigte Sehne am Schulterknochen fixiert und mit Hilfe kleinster Schrauben im Knochen verankert. Gesunde Sehnen halten enorme Belastungen aus. Deshalb bedarf es enormer Kräfte - wie Auto- oder Skiunfälle -, um die Rotatorenmanschette reißen zu lassen. Häufigste Ursache für einen Totalriss ist der Verschleiß von Sehnen vor allem bei älteren Menschen.
Traditionelle Behandlung
Die traditionelle Behandlung einer solchen Ruptur stellt einen enorm aufwendigen Eingriff dar: Die Schulter wird in einer Operation geöffnet. Dann wird ein Muskeltransfer durchgeführt. Muskelgewebe - aus dem Rücken oder der Brust - wird in die Schulter implantiert. Auch wenn der Schmerz danach nachlässt, bleiben erhebliche Bewegungs- und Funktionseinschränkungen. Man kann den betroffenen Arm kaum noch heben.
Arthroskopische Operationstechnik
Kunz geht einen anderen, schonenderen Weg: Er verwendet Bio-Pflaster, die er wie normale Pflaster an der zerstörten Sehne befestigt und im Knochen verschraubt. Die Arthroskopie dauert rund 60 Minuten. Doch wie bekommt man ein Pflaster von der Oberfläche eines Papiertaschentuchs in die Schulter? Kunz rollt es wie eine Zigarette zusammen und schiebt es in den Arthroskopieschlauch. "Bis vor wenigen Jahren hatte man bei großen Rissen keine Chance. Heute ist eine weitgehende Genesung möglich." Der Orthopäde hat mit seiner Methode bisher ein Dutzend Patienten - zwischen 38 und 62 Jahren - operiert. International ist er wohl der einzige, der das Fremd-Implantat nicht offen, sondern arthroskopisch einsetzt.
Arthroskopische Operationstechnik
Die Vorteile der "Schlüssellochchirurgie" liegen auf der Hand: schnellere Heilung, weniger Gewebeverletzungen und Narben, geringere Traumatisierung, kürzere Rehabilitation - und raschere Wiedereingliederung ins Arbeitsleben. Schon wenige Tage nach der Operation beginnt der Patient mit der Physiotherapie. Nach drei Monaten kann er die Schulter weitgehend bewegen. "Endlich kann ich ohne Schmerzen leben", sagt ein Mann, in dessen Schulter ein Bio-Pflaster für den richtigen Halt sorgt. "Haare kämmen, Pullover anziehen, Teller aus dem Schrank holen - alles Dinge, die früher völlig unmöglich waren".
Arthroskopische Patch-Technik
Schematische Position des Collagene Repair Patch über der gerissenen Rotatorenmanschette und Lage der Haltenähte.
Quellen
Stuttgarter Zeitung, 11.10.2006, Autor: Markus Brauer